Radio Beitrag Tourette und der 'THC-Forschung'

Ein 5:30 minütiger Beitrag zum Thema Tourette und der THC-Forschung, als MP3-Download.

Karl-Friedrich Gründler war u.a. im Gespräch mit Christiane Kant und Dr. Kirsten Müller-Vahl.

Mit herzlichem Dank an Herrn Gründler, der einverstanden war, seinen Beitrag hier zum Download zur Verfügung zu stellen. Der Beitrag wurde im Mai/Juni 2002 in verschiedenen Fassungen ausgestrahlt.

 

 

Textfassung des Radiobeitrags von Karl Friedrich Gründler - Länge ca. 5’15’’

Mit Cannabis gegen das Tourette-Syndrom?

Eine Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover

Infos für Mod: Die Patienten haben Zuckungen im Gesicht und am ganzen Körper und können diese genauso wenig verhindern wie Pfeifen, Räuspern oder obszöne Ausrufe. Der Französische Neurologe Gilles de la Tourette hat 1885 diese Krankheit erstmals ausführlich beschrieben, die seither Tourette-Syndrom genannt wird.

Über 50 000 Menschen in Deutschland leiden an dieser unheilbaren Krankheit, deren Ursache nach wie vor unbekannt ist. Forscher an der Medizinischen Hochschule Hannover haben Tourette-Patienten mit Cannabis-Wirkstoffen behandelt. Ein Bericht von Karl Friedrich Gründler

Viele Infos von Wissenschaftlern und Betroffenen gibt es unter www.tourette.de

Autor: Christiane Kant lebt seit 21 Jahren mit dem Tourette-Syndrom. Sie arbeitete als Cutterin beim Fernsehen und musste wegen ihrer Krankheit in Frührente gehen. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in einem kleinen Gartenhaus am Rande Berlins.

O-Ton 1 Christiane Kant: Ich hab dann also auch irgendwann auch gemerkt, dass man mit einem hmhmhmn so einem Tön/Tonlaut hm versucht meine verspann meine verspannte Brustmuskulatur zu entspannen hm dieses würde eine ruckartigen Ausatmen entsprechen hm und da haben sich so ein bisschen denn vokale Tics rausgebildet, die ich habe. hm das geht über Räuspern und wenn es mir ganz schlecht geht wie das ich über Schreie meine großen Energiestau abreagiere.

Das sind bei mir motorische Tics wie hm im Nacken und im Kopfbereich, das ich mit dem Kopf dehne oder schüttele. Das ist auch im Gesichtsbereich Blinzeln und Augenzukneifen. 46’’

Autor: Das Tourette-Syndrom tritt zumeist zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr auf und bleibt oft jahrelang unerkannt. Die Neurologin Dr. Kirsten Müller-Vahl hat sich auf die Krankheit spezialisiert und 1994 an der Medizinischen Hochschule Hannover eine Tourette-Ambulanz eingerichtet. Sie wird von Patienten aus ganz Deutschland aufgesucht.

O-Ton 2 Dr. Müller-Vahl: Das stellt für die Kinder aber auch für die Familie häufig eine erhebliche Belastung dar, wenn die korrekte Diagnose nicht gestellt wird, wenn erst einmal eine falsche Diagnose insbesondere die Diagnose einer Psychogenen Störung gestellt wird, weil dann häufig auch falsche Therapien eingeleitet werden, die für die Sache überhaupt nicht hilfreich sind. 20’’

Autor: Stärker ausgeprägte Symptome sind quälend für die Betroffenen und beunruhigend für ihre Umgebung.

O-Ton 3 Dr. Müller-Vahl: Also wenn sie sich vorstellen, Sie leben mit einem Menschen zusammen, der ständig kräftig aufstampfen muss, kräftig laut schreien muss. Ich habe Patienten, die so laute Schreie, also so laute vokale Tics haben, dass sogar die Nachbarn sich beschweren. Dann kann das auch für die Familie eine erhebliche Belastung darstellen. 17’’

Autor: Abgesehen von den körperlichen Spannungen und Schmerzen durch die Tics können die Folgen der Krankheit gesellschaftliche Isolation und Depressionen sein. Die Patienten können ihre Tics nicht völlig ausschalten, allenfalls eine Zeit lang unterdrücken oder z. T. in weniger auffallende Verhaltensweisen umlenken. Man vermutet, dass bei ihnen die Übertragung von Botenstoffen im Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten ist. Weil die genaue Ursache noch unbekannt ist, kann die Krankheit bisher nicht geheilt werden. Als Medikamente werden sogenannte Dopamin-Blocker eingesetzt, die ausschließlich die Symptome lindern und das mit z.T. erheblichen Nebenwirkungen.

O-Ton 4 Dr. Müller-Vahl: Die häufigsten Nebenwirkungen dieser Medikamente sind Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, dann kann es zu einer Appetitsteigerung mit Gewichtszuname kommen. Bei Erwachsenen kann es zu Sexualfunktionsstörungen kommen. 14’’

Autor: Das Forscherteam an der Medizinischen Hochschule Hannover sucht jetzt nach besseren Medikamenten für Tourette-Patienten. Prof. Udo Schneider ist seit Jahren Spezialist für die medizinische Anwendung von Cannabis. Von den Menschen seit mehreren Jahrtausenden als Heilpflanze genutzt, ist Cannabis im vorigen Jahrhundert durch Drogenmissbrauch in Verruf geraten.

O-Ton 5 Prof. Schneider: Seit ca. 10 Jahren wissen wir, dass die Cannabiswirkung sehr spezifisch ist. Über bestimmte Bindungsstellen im Gehirn wirkt Cannabis, das so ähnlich wie Schlüssel-Schlossprinzip. Es gibt bestimmte Schlösser auf Zellen im Gehirn und Cannabis wirkt dann als Schlüssel, der nur an dieser bestimmten Stelle wirkt.

Prof. Schneider: Wir wussten aus Forschungsergebnissen, dass diese Cannabisrezeptoren im Gehirn besonders an den Stellen liegen, die für Bewegungssteuerung zuständig sind und damit ergab sich für uns eine Verbindung. 35’’

Autor: Sechs Wochen lang bekamen die Tourette-Patienten den Cannabis-Wirkstoff Tetrahydrocannabinol, kurz THC, bzw. ein Placebo-Medikament. THC wurde dabei als Kapsel verabreicht und so gering dosiert, dass keine Rauschwirkungen auftraten. Die mit dem Cannabis-Wirkstoff behandelten Probanden entwickelten deutlich weniger Tics bei nur geringen Nebenwirkungen.

O-Ton 6 Dr. Müller-Vahl: Eine Patientin habe ich konkret vor Augen, die sagte, sie habe sonst so starke Tics, dass sie schlecht als Beifahrerin im Auto mit jemanden fahren könne, und während der THC-Behandlung sei das problemlos gegangen. Sie habe einfach nicht mehr so stark getict, habe nicht mehr den Drang gehabt, dem Autofahrer ins Lenkrad zu greifen und vor <dem< der Windschutzscheibe <ehm< rumzufingern. 23’’

Autor: Die Mediziner in Hannover wollen in weiteren Studien andere Cannabiswirkstoffe einsetzen und die Bindungsstellen im Gehirn erstmals bildlich darstellen. In ca. zwei Jahren könnte ein wirksames Präparat auf Cannabis-Basis entwickelt werden.

THC ist bisher nicht als Medikament in Deutschland zugelassen. Die Krankenkassen weigern sich zumeist, die Kosten von ca. 500 Euro im Monat im Rahmen einer experimentellen Therapie zu übernehmen. Es wäre ein Skandal, wenn Pharmaindustrie und Krankenkassen den Weg zu einer wirksamen Hilfe für Tourette-Patienten auf Dauer blockieren.